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Was man nicht sagen darf

Haben Sie sich schon mal auf alten Fotos betrachtet und sich geschämt, wie Sie darauf aussahen? Sind wir wirklich so herumgelaufen? Sind wir. Und wir hatten keine Ahnung, wie lächerlich wir aussahen.

Es liegt in der Natur der Mode, unsichtbar zu sein, genauso wie die Bewegung der Erde für uns unsichtbar ist, weil wir darauf leben.

Mich erschreckt allerdings, dass es auch moralische Moden gibt. Sie sind oftmals genauso willkürlich und für die meisten Leute genauso unsichtbar. Sie sind aber viel gefährlicher. Mode wird für guten Geschmack gehalten – moralische Mode wird für das Gute gehalten. Wer sich komisch anzieht, wird ausgelacht. Moralische Moden zu missachten, kann zur Entlassung, zur Ächtung, ins Gefängnis oder sogar zum Tode führen.

Wenn Sie mit einer Zeitmaschine reisen könnten, egal in welche Zeit, müssten Sie immer darauf achten, was Sie sagen. Ansichten, die wir heute für normal oder harmlos halten, könnten Sie in große Schwierigkeiten bringen.

Es scheint eine Konstante in der Geschichte zu sein, dass die Menschen zu jeder Zeit Dinge glaubten, die einfach lächerlich waren, und so fest daran glaubten, dass in ernsthafte Schwierigkeiten kam, wer etwas anderes äußerte.

Ist unsere Zeit da irgendwie anders? Für jeden, der sich in der Geschichte ein bisschen auskennt, ist die Antwort ziemlich sicher nein. Es wäre schon ein bemerkenswerter Zufall, wenn unser Zeitalter zum ersten Mal alles richtig hinbekäme.

Dass wir Dinge glauben, die künftige Generationen lächerlich finden werden, ist ein quälender Gedanke. Worauf müsste jemand achten, der mit einer Zeitmaschine zu uns käme? Das möchte ich gerne herausfinden. Ich möchte aber nicht nur mit der Häresie des Tages schockieren, sondern allgemeine Regeln finden, was man nicht sagen darf, egal in welchen Zeitalter.

Der Konformisten-Test

Machen wir einen Test: Haben Sie irgendwelche Ansichten, die Sie lieber nicht öffentlich äußern? Wenn die Antwort nein ist, möchten Sie vielleicht mal kurz darüber nachdenken. Wenn all Ihre Ansichten „normal“ sind, könnte das ein Zufall sein? Möglicherweise nicht. Möglicherweise denken Sie dann einfach nur, was man Ihnen beigebracht hat.

Andererseits könnten Sie jede Frage unabhängig bedacht haben und in jedem Fall zu einer Antwort gelangt sein, die allgemein für akzeptabel angesehen wird. Das kommt mir unwahrscheinlich vor, weil Sie auch die gleichen Fehler gemacht haben müssten.

Wie in jedem anderen Abschnitt der Geschichte enthält unsere moralische Landkarte ziemlich sicher ein paar Fehler. Und wenn jemand beim Zeichnen seiner eigenen Karte die gleichen Fehler macht, macht er sie bestimmt nicht zufällig. Das wäre, als wenn jemand behauptete, er habe 1972 völlig unabhängig beschlossen, Schlaghosen toll zu finden.

Heutzutage scheint man allgemein anzunehmen, dass etwas nicht mit einem stimmt, wenn man etwas denkt, was man nicht laut zu sagen wagt. Das erscheint mir rückständig. Ziemlich sicher stimmt mit Ihnen etwas nicht, wenn Sie nichts denken, was Sie nicht laut zu sagen wagen.

Ärger bekommen

Was darf man nicht sagen? Schauen wir doch einfach, mit welchen Äußerungen Leute Ärger bekommen.

Natürlich suchen wir nicht einfach irgendwelche Dinge, die man nicht sagen darf. Wir suchen Dinge, die man nicht sagen darf, die aber wahr sind, oder die zumindest eine hinreichend große Chance haben, wahr zu sein, dass die Frage offen bleiben sollte.

Niemand gerät in Schwierigkeiten, wenn er behauptet, 2 + 2 sei 5, oder dass die Menschen in Trimwillershagen drei Meter groß seien. Solche offensichtlich falschen Aussagen werden als Witz angesehen oder im schlimmsten Fall als Anzeichen von Geisteskrankheit, aber es wird sich niemand groß darüber aufregen.

Worüber sich die Leute aufregen, ist das, wo sie fürchten, dass es jemand glauben könnte. Ich unterstelle, dass sich die Leute am meisten aufregen, wenn sie selbst befürchten, etwas könnte wahr sein.

Wenn Galilei behauptet hätte, die Leute in Padua wären drei Meter groß, hätte man ihn für einen harmlosen Exzentriker gehalten. Dass er aber sagte, die Erde kreise um die Sonne, war etwas ganz anderes – die Kirche wusste, dass er Recht haben könnte.

Haben wir heute keine Galileis? Unwahrscheinlich. Um sie zu finden, suche ich nach Meinungen, die Leute in Schwierigkeiten bringen, und frage: Könnte das wahr sein? Es mag ketzerisch sein, aber könnte es auch wahr sein?

Ketzerei

Das wird uns bestimmt nicht alle Antworten liefern. Was ist mit den Ideen, mit denen noch niemand Ärger bekommen hat? Was ist mit den Ideen, die dermaßen radioaktiv kontrovers sind, dass sich noch niemand getraut hat, sie öffentlich zu äußern? Wie finden wir die?

Ein Ansatz wäre, dem Wort „Ketzerei“ zu folgen. In jedem Abschnitt der Geschichte scheint es Etikettierungen gegeben zu haben, um Äußerungen abzuwürgen, bevor jemand eine Chance zum Nachfragen hatte, ob sie richtig oder falsch seien. „Blasphemie“, „Sakrileg“ und „Ketzerei“ waren für lange Zeit solche Stempel, so wie in jüngerer Zeit „unanständig“, „abartig“ oder „undeutsch“. Inzwischen haben diese Stempel ihren Stachel verloren und werden meist ironisch verwendet. Aber zu ihrer Zeit waren sie wirklich mächtig.

Natürlich haben wir auch heute solche Stempel, jede Menge. Um sie zu finden, muss man einfach darauf achten, wie die Leute Meinungen nennen, denen sie nicht zustimmen – abgesehen von „falsch“ oder „unwahr“. Wenn ein Politiker sagt, sein Gegner irre sich, dann ist das eine geradlinige Kritik; wenn er eine Aussage aber als „umstritten“ oder „ethnisch verletzend“ angreift, statt nachzuweisen, dass sie falsch ist, sollten wir aufmerken.

Um herauszufinden, über welche unserer Tabus künftige Generationen lachen werden, können wir also auch bei den Stempeln anfangen.

Nehmen Sie zum Beispiel „sexistisch“ und denken Sie an ein paar Aussagen, die man so bezeichnen würde. Fragen Sie bei jeder: „Könnte sie wahr sein?“

Soll ich einfach willkürlich Ansichten auflisten? Ja, weil sie nicht wirklich willkürlich sein werden. Die Ansichten, die einem zuerst einfallen, werden die einleuchtendsten sein – das sind die, welche Ihnen schon aufgefallen sind, die Sie sich aber nicht haben denken lassen.

Ich nehme an, dass wir viele interessante ketzerische Gedanken bereits fast fertig im Kopf haben. Wenn wir unsere Selbstzensur vorübergehend abschalten, werden diese zuerst herauskommen.

Zeit und Raum

Wenn wir in die Zukunft sehen könnten, wäre schnell klar, über welche unserer Tabus gelacht wird. Wir können es nicht, aber etwas fast Gleichwertiges: Wir können in die Vergangenheit schauen und danach suchen, was damals akzeptabel war und heute undenkbar ist.

Veränderungen von der Vergangenheit zur Gegenwart bedeuten manchmal einen Fortschritt. Auf Gebieten wie der Physik widersprechen wir unseren Vorfahren, weil wir es besser wissen als sie. Je weiter man sich von den Naturwissenschaften entfernt, desto unklarer wird das aber. Sobald es um soziale Fragen geht, sind viele Veränderungen schlicht Moden. Der Zeitgeist schwankt wie die Rocklänge.

Wir mögen uns einbilden, wir seien viel klüger und besser als frühere Generationen, aber je besser man sich in der Geschichte auskennt, desto unwahrscheinlicher wird das. Die Menschen von früher waren uns sehr ähnlich, weder Helden noch Barbaren. Was auch immer sie für Ansichten hatten – es waren Ansichten, die vernünftige Menschen haben konnten.

Da haben wir eine weitere Quelle interessanter Ketzereien: Vergleichen wir heutige Ideen mit denen verschiedener vergangener Kulturen und schauen wir, was dabei herauskommt. Manches wird nach heutigen Maßstäben erschütternd sein. Mag sein – aber was davon könnte wahr sein? Man muss noch nicht einmal in die Vergangenheit schauen, um große Unterschiede zu finden. Auch in unserer eigenen Zeit haben verschiedene Gesellschaften wild auseinander laufende Vorstellungen davon, was in Ordnung ist und was nicht. Somit können Sie auch andere Kulturen mit ihrer vergleichen – die beste Methode ist, sie zu besuchen.

Sie werden teilweise widersprüchliche Tabus finden. In der einen Kultur mag es schockierend sein, X zu denken, während es in einer anderen für schockierend gehalten wird, das nicht zu tun. Normalerweise wird der Schock aber wohl auf einer Seite bleiben: In der einen Kultur ist X in Ordnung, in der anderen undenkbar. Meine Hypothese ist, dass die Seite, die sich aufregt, wahrscheinlich im Unrecht ist.

Ich schätze, es gibt ein paar allgemein gültige Tabus, die mehr sind, Mord zum Beispiel. Aber jede Idee, die in Zeiten und Kulturen signifikat häufig auftritt, bei uns aber ein Tabu ist, ist ein guter Kandidat für etwas, wo wir falsch liegen.

Musterknaben

Es gibt solche kleinkarierten Haarspalter, die dir deine Grammatik und deine Ansichten im gleichen Gespräch korrigieren, weil sie natürlich wissen, wie es richtig ist. Da haben wir eine weitere Methode, Tabus zu finden: Suche nach Musterknaben und schau nach, was sie im Kopf haben.

Kinder zum Beispiel haben all unsere Tabus im Kopf. Wir meinen offenbar, die Gedanken unserer Kinder müssten hell und rein sein. Das Bild, das wir ihnen von der Welt vermitteln, ist nicht nur vereinfacht, um es ihrem Entwicklungsstand anzupassen, sondern auch desinfiziert, um unseren Vorstellungen zu entsprechen, was ein Kind denken sollte. Man kann das im kleinen Maßstab an „schmutzigen Wörtern“ erkennen: Viele meiner Freunde bekommen jetzt Kinder und versuchen, Wörter wie „Scheiße“ und „Arschloch“ in deren Hörweite nicht mehr zu verwenden, damit das Kind sie nicht nachplappert. Aber diese Wörter sind Teil unserer Sprache, und Erwachsene benutzen sie ständig. Also geben die Eltern ihren Kindern eine ungenaue Vorstellung von ihrer Sprache, wenn sie sie nicht benutzen. Warum machen sie das? Weil sie es für unpassend halten, wenn Kinder die ganze Sprache benutzen. Wir möchten Kinder gerne süß und unschuldig sehen.

Die meisten Eltern geben ihren Kindern eine genauso irreführende Vorstellung von der Welt. Eines der deutlichsten Beispiele ist der Weihnachtsmann. Wir finden es süß, wenn Kinder an den Weihnachtsmann glauben. Ich auch. Aber man fragt sich: erzählen wir ihnen sowas um ihretwillen oder um unseretwillen?

Ich plädiere hier nicht dafür oder dagegen. Es ist wahrscheinlich unausweichlich, dass Eltern den Geist ihrer Kinder in niedliche kleine Babykleider stecken möchten. Ich werde das wahrscheinlich auch tun. Für unseren Zweck ist hier nur wichtig, dass das Hirn eines wohlerzogenen Kindes eine mehr oder weniger komplette Sammlung all unserer Tabus darstellt, in neuwertigem Zustand, noch unbefleckt von Erfahrungen.

Stellen Sie sich einen altgedienten Haudegen vor, der eine Weile als Söldner in Afrika, eine Weile als Arzt in Nepal und eine Weile als Nachtclub-Manager in Miami war. Die Einzelheiten spielen keine Rolle – einfach jemand, der eine Menge gesehen hat. Nun stellen Sie sich ein wohlerzogenes Mädchen aus einer Vorstadt vor und vergleichen Sie, was die beiden im Kopf haben. Was denkt er, was sie schockieren würde? Er kennt die Welt; sie kennt oder zumindest verkörpert zeitgenössische Tabus. Ziehen Sie eins vom anderen ab, und was übrig bleibt, darf man nicht sagen.

Mechanismen

Wie entstehen eigentlich Tabus, und warum setzen sie sich durch? Vielleicht können wir diesen Mechanismus verstehen und ihn in unserer Zeit beobachten.

Gewöhnliche Moden scheinen zufällig zu entstehen, wenn jeder die Launen einer einflussreichen Person imitiert.

Die Mode von Ochsenmaulschuhen (Schuhe mit breiter Spitze) im späten 15. Jahrhundert entstand, weil Karl VIII. von Frankreich sechs Zehen hatte. Der Name Gary wurde Mode, als der Schauspieler Frank Cooper den Namen einer Hüttenstadt in Indiana annahm.

Moralische Moden scheinen öfter absichtlich geschaffen zu werden. Wenn wir etwas nicht sagen dürfen, dann oft, weil eine bestimmte Gruppe es nicht will.

Das Verbot ist dann am stärksten, wenn diese Gruppe nervös ist. Die Ironie von Galileis Situation war, dass er Schwierigkeiten bekam, weil er die Ideen von Kopernikus wiederholte. Kopernikus selber bekam keine – er war selber Priester und widmete sein Buch dem Papst. Doch zu Galileis Zeit lag die Kirche in den Wehen der Gegenreformation und machte sich über unorthodoxe Ideen viel mehr Sorgen.

Um ein Tabu aufzustellen, muss eine Gruppe zwischen Macht und Schwäche balancieren. Eine selbstsichere Gruppe braucht keine Tabus, um sich zu schützen. Doch die Gruppe muss mächtig genug sein, um ein Tabu durchzusetzen. Die größte Quelle moralischer Tabus werden Machtkämpfe sein, in der eine Seite nur knapp die Oberhand behält, deren Sieg aber als Sieg ihrer Idee verstanden wird.

Welche Gruppen sind mächtig, aber nervös, und welche Ansichten würden sie gerne unterdrücken? Welche Ideen werden mit der Verliererseite eines aktuellen Konflikts assoziiert?

Obwohl moralische Moden eher anderen Quellen entstammen als Moden in der Kleidung, verbreiten sie sich doch auf ähnliche Weise: Die ersten Anhänger werden von Leidenschaft getrieben, es sind selbstbewusste, unabhängige Menschen, die sich von der Masse abheben wollen. Wenn die Mode sich etabliert, kommt eine zweite, wesentlich größere Gruppe hinzu, die eher von Angst getrieben wird. Sie nimmt die Mode nicht an, um aufzufallen, sondern weil sie Angst hat aufzufallen.

Wenn eine selbstbewusste Person sich von Vorgänger-Moden abheben wollte (z.B. von ihren Eltern), welche ihrer Ideen würde sie wohl ablehnen? Was trauen sich konventionell denkende Menschen nicht zu sagen?

Warum?

Warum sollte man das tun? Wozu freiwillig in abstoßenden, schandbaren Ideen herumstochern? Wozu Steine umdrehen?

Zuallererst aus dem gleichen Grund, aus dem ich schon als Kind Steine umdrehte: pure Neugier. Und ich bin besonders neugierig auf alles, was verboten ist. Lass mich nachschauen und für mich selbst entscheiden.

Zweitens mag ich die Vorstellung nicht, Unrecht zu haben. Wenn wir, wie zu allen Zeiten, Dinge glauben, die später als lächerlich angesehen werden, möchte ich schon heute wissen, welche das sind, um sie zu vermeiden.

Drittens ist es gut für’s Gehirn. Um Probleme lösen zu können (also gute Arbeit leisten zu können), braucht man ein Hirn, das überall hingehen kann – und zwar besonders dahin, wohin es nicht soll. Neue Erkenntnisse entstehen oft aus Ideen, die andere übersehen, und nichts wird so sehr übersehen wie das Undenkbare.

Die Evolutionstheorie zum Beispiel. Sie ist so einfach, warum ist nicht früher jemand darauf gekommen? Das ist nur zu offensichtlich. Darwin selbst schlich sehr vorsichtig um die Folgerungen aus seiner Theorie herum. Er wollte seine Zeit damit verbringen, über Biologie nachzudenken und nicht mit Leuten zu streiten, die ihn als Atheisten beschimpften.

In den Naturwissenschaften ist es ein besonderer Vorteil, wenn man Annahmen in Frage stellen kann. Gute Wissenschaftler tun genau das: sie suchen nach den Löchern in etablierten Theorien und versuchen, sie weiter aufzureißen. Naturwissenschaftler sind auf Ärger aus. Das sollten alle Akademiker, aber Naturwissenschaftler sind am ehesten bereit, Steine umzudrehen.

Aber nicht nur in der Wissenschaft zahlt sich Ketzerei aus. Auf jedem Feld mit großer Konkurrenz lässt sich viel gewinnen, wenn man Dinge sieht, die sich andere nicht trauen. Und davon gibt es wahrscheinlich genug.

Sich selbst zu trainieren, Unaussprechliches zu denken, hat Vorteile über das Denken selbst hinaus – es ist wie Dehnübungen. Wenn man sich vor dem Rennen dehnt, bringt man seinen Körper in viel extremere Positionen, als man sie beim Rennen je einnehmen wird. Wenn man Gedanken denken kann, die so sehr außerhalb des Gewöhnlichen liegen, dass sich den Leuten die Haare sträuben würden, hat man keine Probleme mit den kleinen Ausflügen, die innovativ genannt werden.

Pensieri stretti

Wenn Sie etwas finden, was man nicht sagen darf, was machen Sie damit? Mein Rat ist: Sagen Sie es nicht. Oder suchen Sie sich Ihre Gegner vorsichtig aus.

Nehmen wir mal an, es gebe eine Bewegung, die die Farbe Gelb verbieten wollte. Vorschläge, etwas gelb anzustreichen, würden als gelblerisch diffamiert, ebenso jeder, der im Verdacht steht, die Farbe zu mögen. Wer Orange mag, würde toleriert, aber mit Argwohn betrachtet.

Nehmen wir an, Sie stellen fest, dass es an Gelb nichts auszusetzen gibt. Wenn Sie das öffentlich sagen, werden Sie als Gelbler angefeindet und müssten sich ständig mit Antigelblern herumstreiten. Wenn es Ihr Lebensziel wäre, die Farbe Gelb zu rehabilitieren, möchten Sie das vielleicht. Wenn Sie aber eher an Anderem interessiert sind, wäre es nur eine lästige Ablenkung, als Gelbler abgestempelt zu werden. Streite mit Idioten, und du wirst ein Idiot.

Das Wichtigste ist, dass Sie denken können, was Sie wollen, nicht unbedingt, es auch zu sagen. Und wenn Sie meinen, alles sagen zu müssen, was Sie denken, mag Sie das davon abhalten, Ungewöhnliches zu denken. Ich halte das Gegenteil für besser. Ziehen Sie eine scharfe Trennlinie zwischen Ihren Gedanken und Ihren Äußerungen. In Ihrem Kopf ist alles erlaubt; in meinem stachle ich mich zu den frevlerischsten Gedanken an, die ich mir vorstellen kann. Aber wie bei einer Geheimgesellschaft darf nichts, was drinnen passiert, nach außen dringen.

Als Milton in den 1630-er Jahren nach Italien reiste, sagte ihm Sir Henry Wotton, ehemaliger Botschafter in Venedig, sein Motto solle sein „i pensieri stretti et il viso sciolto“ – verschlossene Gedanken und ein offenes Gesicht. Das war ein weiser Rat, denn Milton war streitlustig, und die Inquisition war damals etwas unruhig. Aber ich denke, der Unterschied zwischen Miltons Situation und unserer ist nur graduell. Jede Zeit hat ihre Ketzerei, und wenn man dafür nicht eingekerkert wird, wird man zumindest genügend Probleme bekommen, dass man an nichts anderes mehr denken kann.

Ich gebe zu, schweigen scheint feige zu sein. Wenn man seine Gedanken für sich behält, verzichtet man auf die Vorzüge der Diskussion. Über Ideen sprechen führt zu mehr Ideen. Das Problem ist, es gibt einfach zu viel, was man nicht sagen darf. Wenn man all das sagt, hat man keine Zeit mehr für die richtige Arbeit.

Der beste Weg ist wohl, ein paar vertrauenswürdige Freunde zu haben, mit denen man offen sprechen kann. Das hilft nicht nur, Ideen zu entwickeln, sondern ist auch ein gutes Kriterium, seine Freunde auszusuchen. Wem man kontroverse Dinge anvertrauen kann, ohne dass er einem an den Hals springt, den sollte man kennenlernen.

Viso sciolto?

Ich glaube nicht, dass wir das viso sciolto so sehr brauchen wie die pensieri stretti. Vielleicht wäre es der beste Weg, klarzumachen, dass du dem Dogma deiner Zeit nicht zustimmst, ohne zu genau zu werden, womit du nicht einverstanden bist. Fanatiker werden versuchen dich bloßzustellen, aber du musst ihnen nicht antworten. Wenn sie versuchen, dir eine Frage nach ihren Regeln aufzuzwingen, indem sie fragen „bist du für oder gegen uns?“, kannst du immer „weder noch“ antworten. Oder noch besser: „Ich habe mich noch nicht entschieden.“

Eine Menge Fragen, über die sich Leute erhitzen, sind eigentlich ziemlich kompliziert. Man gewinnt keinen Preis dafür, die Antwort schnell zu geben.

Wenn die Anti-Gelbler außer Kontrolle geraten und Sie sich wehren wollen, gibt es Wege, das zu tun, ohne als Gelbler denunziert zu werden. Ein Scharmützler vermeidet es, der feindlichen Hauptmacht entgegenzutreten. Besser ist es, sie mit Pfeilen aus der Distanz zu belästigen.

Ein Weg dazu ist, die Debatte eine Abstraktionsstufe höher zu führen: Wenn Sie sich gegen Zensur im Allgemeinen aussprechen, können Sie vermeiden, irgendeiner bestimmten Ketzerei bezichtigt zu werden, die ein Buch oder Film enthält, das oder den jemand zu zensieren versucht.

Man kann Stempeln mit Meta-Stempeln angehen: Die Verbreitung des Begriffs „political correct“ bedeutete den Anfang vom Ende der politischen Korrektheit, weil man das Phänomen als Ganzes angreifen konnte, ohne einer der spezifischen Ketzereien bezichtigt zu werden, die sie zu unterdrücken suchte. Eine andere Möglichkeit zum Gegenangriff sind Metaphern. Arthur Miller untergrub die Kommission zur Untersuchung un-amerikanischer Umtriebe (HUAC, 1938–1975) mit seinem Stück „Hexenjagd“ (The Crucible) über die Salemer Hexenprozesse. Er verwies niemals direkt auf die Kommission und gab ihr somit keine Möglichkeit zur Handhabe. Was sollte die HUAC tun – die Hexenprozesse verteidigen? Und doch passte Millers Metapher so gut, dass die Aktivitäten der Kommission bis heute oft als „Hexenprozesse“ beschrieben werden.

Das beste ist aber Humor. Eiferer jeglicher Couleur sind ohne Unterschied humorlos. Sie können auf Witze nicht angemessen reagieren. Sie sind auf dem Gebiet des Humors so unglücklich wie ein Ritter auf der Eisbahn. Die viktorianische Prüderie zum Beispiel scheint hauptsächlich durch ihre Veralberung untergegangen zu sein. „Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, ‚Hexenjagd‘ zu schreiben“, schrieb Arthur Miller, „aber im Rückblick hätte ich gerne das Temperament für eine absurde Komödie gehabt, denn das wäre der Situation angemessen gewesen.“

Nie aufhören zu fragen

Ein holländischer Freund meinte, ich solle die Niederlande als Beispiel einer toleranten Gesellschaft nennen. Es ist wahr, dass sie eine lange Tradition verhältnismäßiger Aufgeschlossenheit haben. Über Jahrhunderte waren die Beneluxländer der Ort, wo man Dinge sagen konnte, die anderswo tabu waren, und das half, die Region zu einem Zentrum von Bildung und Wirtschaft zu machen (die schon länger eng zusammenhängen, als den meisten Leuten klar ist). Und doch wundere ich mich. Die Niederländer scheinen bis zum Hals in Regeln und Gesetzen zu stecken. Es gibt dort so viel, was man nicht tun darf – gibt es dort wirklich nichts, was man nicht sagen darf?

Sicherlich ist die Tatsache, dass sie Aufgeschlossenheit schätzen, keine Garantie. Wer hält sich schon für nicht aufgeschlossen? Fragen Sie irgendwen, alle werden das Gleiche sagen: sie seien ziemlich aufgeschlossen, obwohl sie natürlich eine Grenze zum wirklich Falschen ziehen. (Manche Stämme mögen „falsch“ als wertend vermeiden und statt dessen neutraler klingende Euphemismen wie „negativ“ oder „destruktiv“ verwenden.)

Wer schlecht in Mathe ist, merkt es an den schlechten Noten in Klausuren. Wer schlecht in Aufgeschlossenheit ist, merkt es nicht. Wir erinnern uns: Es liegt in der Natur der Mode, unsichtbar zu sein. Sie würde sonst nicht funktionieren. Für diejenigen, die sie im Griff hat, sieht sie nicht nach einer Mode aus, sondern einfach nach dem Richtigen. Erst aus der Distanz erkennen wir Schwankungen in den Vorstellungen der Leute und können sie als Mode identifizieren.

Zeit gibt uns diese Distanz kostenlos. Die Ankunft neuer Moden macht alte Moden leicht sichtbar, weil sie im Kontrast so lächerlich wirken. Von einem Ende des Pendelschlags aus scheint das andere besonders weit entfernt.

Den Zeitgeist der eigenen Zeit zu sehen, erfordert jedoch einen bewussten Aufwand. Wenn Ihnen nicht die Zeit die nötige Distanz gibt, müssen Sie sie selbst herstellen. Statt Teil der Menge zu sein, entfernen Sie sich so weit wie möglich von ihr und beobachten, was sie tut. Und passen Sie besonders gut auf, wenn eine Idee unterdrückt wird. Internet-Filter für Kinder und Angestellte blockieren oft den Zugriff auf Seiten, die Pornographie, Gewalt und extreme Sprache enthalten. Was aber zählt als Pornographie oder Gewalt? Und was genau ist „extreme Sprache“?

Solche Stempel sind wahrscheinlich die besten äußeren Anzeichen. Wenn eine Aussage falsch ist, dann ist das das Schlimmste, was man darüber sagen kann. Man muss nicht sagen, sie sei ketzerisch. Und wenn sie nicht falsch ist, sollte sie nicht unterdrückt werden.

Wenn Sie Aussagen als x-istisch angegriffen sehen (setzen Sie die aktuellen Werte für x ein), ob 1630 oder 2030, dann ist das ein sicheres Zeichen, dass etwas nicht stimmt. Fragen Sie nach, wenn Sie solche Stempel sehen!

Besonders, wenn Sie sie selbst gebrauchen. Es sind nicht nur die Anderen, die Sie aus der Distanz betrachten müssen. Sie müssen auch die eigenen Gedanken distanziert betrachten können.

Das ist übrigens keine radikale Idee; es ist der wichtigste Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Wenn ein Kind wütend wird, weil es müde ist, weiß es nicht, was passiert. Ein Erwachsener kann sich genügend von der Situation distanzieren, um zu sagen „nicht aufregen, ich bin bloß müde“. Ich sehe keinen Grund, warum man auf ähnliche Weise nicht lernen könnte, die Wirkungen moralischer Moden zu erkennen und zu reduzieren.

Man muss diese zusätzliche Stufe nehmen, wenn man klar denken will. Sie ist aber schwierig, weil Sie dann gegen den sozialen Strom schwimmen statt mit ihm. Jeder fördert Sie so weit, dass Sie Ihre schlechte Laune ignorieren können. Kaum jemand unterstützt Sie, bis zu dem Punkt weiterzumachen, wo Sie die schlechte Laune der Gesellschaft ignorieren können.

Wie kann man die Welle sehen, wenn man das Wasser ist? Nie aufhören zu fragen. Was darf man nicht sagen? Und warum?

„Was die Moral betrifft, weiß ich nur, dass moralisch ist, wonach man sich gut fühlt und unmoralisch, wonach man sich schlecht fühlt.“ (Ernest Hemingway)